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Emmy Hennings: „Das Brandmal / Das ewige Lied“

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Emmy Hennings´ Roman Das Brandmal (1920) und die drei Jahre später erschienene Erzählung Das ewige Lied (1923) sind zwei Passionsgeschichten. Die „Aufzeichnungen einer durch die Städte vagabundierenden und dabei gottsuchenden Schauspielerin […] und der Fiebermonolog einer Typhuskranken sind zwei ebenso verstörende wie verstörte Texte, in denen sich mystische Rede, Bekenntnisse und wirre Träume miteinander verschränken“, schreibt Nicola Behrmann im ausführlichen Nachwort zu dieser neuen Doppelausgabe im Wallstein-Verlag.

Beide Texte „erzählen keine Geschichte, sind psychologisch nur ungenügend motiviert und stehen ganz im Zeichen jenes ‚dunklen‘ Lebens, das Emmy Hennings von 1908 bis 1910 als Schauspielerin an kleinen Revuetheatern du Varietés führte.“ Wer jedoch unter den damaligen Lesern autobiographische Details in diesen beiden literarischen Texten erwartete, wurde enttäuscht. Emmy Hennings hatte stets beharrlich über ihr Privatleben geschwiegen; dabei hätte sie als Ehefrau des Dadaisten Hugo Ball wohl eine Menge erzählen können.

Charakteristisch für jene Zeit der frühen Weimarer Republik war das fotografische Schreiben, ein schneller und am Puls der Zeit entlangschreibender sozialer Reportagestil; doch weder in Das Brandmal noch in Das ewige Lied ist davon etwas zu finden. Obwohl Hennings in beiden Texten die Ränder der Gesellschaft in das Zentrum ihres Interesses stellt, wird das soziale Elend in beiden Text nicht zum Vordergrund der Beschreibungen, sondern bleibt seltsam verborgen. Gleichwohl entfalten beide Texte eine dichte und bedrückende Atmosphäre, die alles beherrschend den Hintergrund der Geschichten bildet.

Hennings gab ihrem Roman Das Brandmal den Untertitel Ein Tagebuch; In ihm zeichnet die Protagonistin Dagny ihren Leidensweg auf den Straßen von Köln auf; als Freudenmädchen, das arm an Freuden aber reich an Qualen ist, erkrankt sie am Ende an Typhus. Genau an diesem Punkt scheint der zweite Text, die Erzählung Das ewige Lied, anzusetzen, denn hier werden die Fieberträume und Visionen einer Typhuskranken erzählt.

Doch die beiden Texte könnten stilistisch kaum unterschiedlicher sein. Während Das Brandmal die inneren Monologe und Gedanken einer jungen Frau aufzeichnet, die ihr Glück in der Großstadt sucht und scheitert, sind die Fragmente und Visionen, Phantasien und Bewusstseinsströme in Das ewige Lied von den Fieberschüben einer in die Besinnungslosigkeit entgleitenden Typhuskranken gezeichnet. Es ist das subjektive Dokument eines langsamen Sterbeprozesses, das Gebet einer Sterbenden bis zu jenem letzten und endgültigen Entschweben ihrer erschöpften Seele in die „Region ohne Schatten“.

Es ist der Initiative des renommierten Wallstein-Verlages zu verdanken, dass nun diese beiden Werke von Emmy Hennings aus den frühen 1920er Jahren wieder für das breite Publikum erschlossen wurden. Doch auch die Literaturwissenschaft wird mit diesem zweiten Band der kommentierten Studienausgabe glücklich werden: Der Anhang umfasst einen umfangreichen Kommentar, ausführliche Informationen über die Wirkungsgeschichte beider Texte, jenes bereits erwähnte Nachwort von Nicola Behrmann (Associate Professor am German Department der Rutgers University, New Jersey), das allein schon 49 Seiten umfasst, sowie zahlreiche, auch farbige Abbildungen.

Mit Hilfe dieser kommentierten Studienausgabe der Werke von Emmy Hennings kann der Leser auf Entdeckungstour gehen, um eine faszinierende Schriftstellerin der frühen Weimarer Republik kennenzulernen. Eine Entdeckung, die sich lohnt, nicht zuletzt, weil sie uns einen neuen Blick auf die frühe Weimarer Republik und auf die sozialen Verwerfungen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eröffnet.

 

 

Autor: Emmy Hennings
Titel: „Das Brandmal / Das ewige Lied“
Gebundene Ausgabe: 508 Seiten
Verlag: Wallstein
ISBN-10: 3835330403
ISBN-13: 978-3835330405

 

 


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