Dr. Kästner, wie man ihn kennt und liebt. In diesem hübschen kleinen Bändchen sind zwei Romanfragmente sowie seine „Briefe an mich selber“ versammelt. Es sind allesamt Texte, die Kästner im inneren Exil geschrieben hat. Das darf man so sagen, obwohl das kürzere Fragment („Der Doppelgänger“) noch 1933 erschienen ist, also im Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.
Im Mai desselben Jahres brannten auch Kästners Werke auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung; Kästner war selbst Augen- und Ohrenzeuge dieses Nazi-Spektakels in Berlin. Dennoch blieb er, anders als viele seiner Kollegen, in Nazi-Deutschland. Dafür mag es drei Gründe gegeben haben: zum einen hatte Kästner sein Leben lang eine sehr starke Mutter-Bindung; die Mutter lebte in Dresden, und er wollte sie nicht zurücklassen; zum anderen sagte er, er wolle Chronist der Ereignisse sein und über das Leben im Dritten Reich schreiben; und nicht zuletzt mag auch seine nicht-jüdische Herkunft dafür ausschlaggebend gewesen sein, sich nicht ins Ausland abzusetzen, sondern das innere Exil zu wählen.
Seit dem Publikationsverbot im Dritten Reich erschienen (und erscheinen bis heute) seine Bücher im Schweizer Atrium-Verlag. Kästner blieb während der Jahre der Nazi-Herrschaft fast durchgehend in Berlin, schrieb seine Beobachtungen und Gedanken auf, um sie später einmal literarisch zu verwenden. Solch ein bemerkenswertes Zeugnis der Ereignisse sind auch Kästners Tagebuchaufzeichnungen, die er in einen unscheinbaren blauen „Blindband“ geschrieben hat; sie wurden später von ihm unter dem Titel „Notabene 45“ veröffentlicht.
Nach seinem „Fabian“ hat Kästner auch an einem neuen Roman geschrieben, der den Titel „Der Doppelgänger“ tragen sollte. Diese Geschichte liest sich in der tat wie eine Fortsetzung des „Fabian“, der ursprünglich „Der Gang vor die Hunde“ heißen sollte und in seiner ungekürzten Urfassung auch deutlich schärfer war. Im „Doppelgänger“ begegnen wir nicht nur dem Autor selbst (als Karl), sondern auch einem Menschen, der „sich selber suchen“ soll, weil er sich aus den Augen verloren hat. Dieses Thema begegnet uns in Variationen auch im „Zauberlehrling“, dem längeren Fragment von 1936 sowie in den „Briefen an mich selber“ (1940).
Wie immer, lesen sich Kästners Texte wunderbar leicht, und doch sind es keineswegs leichte und seichte Themen, die er in ihnen behandelt. Während „Der Doppelgänger“ leider schon nach drei Kapiteln abbricht, wächst „Der Zauberlehrling“ selbst in dieser fragmentarischen Form zu einer vollwertigen kleinen Erzählung heran. Dass der Text an dieser Stelle abbricht, tut seiner Wirkung keinen Abbruch. Nicht nur eingeschworene Kästner-Fans werden hier ihren Lesespaß haben!
Das innere Exil und das Schreibverbot gehen an einem empfindsamen Menschen, wie Kästner es war, nicht spurlos vorüber. Es gehört vielleicht viel ein größerer Mut dazu zu versuchen, unter den Feinden zu leben, als vor ihnen zu fliehen. Wer bleibt, ist gezwungen, sich zu arrangieren und anzupassen, zumindest so weit, dass die eigene Haut nicht gefährdet ist. Das ist etwas Anderes, als aktiv Widerstand zu leisten, doch es kann in seiner subversiven Kraft Ähnliches bewirken, wenn einer eben nicht nur sich anpasst und das Grauen erträgt, sondern Zeuge wird, beobachtet und notiert, aufschreibt, was er sieht und hört.
Als Künstler und Freigeist im nationalsozialistischen Deutschland zu leben, war für Kästner gewiss keine leichte Aufgabe. Er schrieb und arbeitete unter anderem Namen für die seichte Unterhaltungsindustrie der Nazis, so schrieb er unter dem Pseudonym „Berthold Bürger“ das Drehbuch für den UfA-Film „Münchhausen“ und verfasste zahlreiche Theatertexte; sein erfolgreichster Film aus jenen Jahren war „Das lebenslängliche Kind“, der nach dem Krieg als Film und Buch unter dem Titel “Drei Männer im Schnee“ veröffentlicht wurde.
Parallel zu jenen seichten und unverfänglichen Texten arbeitete Kästner an seinem eigentlichen Werk, so eben auch an jenen Romanen, die hier im Fragment vorliegen. Am stärksten spürt man die seelische Not eines Schriftstellers, der unter dem Druck der Machthaber gezwungen ist, sich zu verstellen und „zweigleisig“ zu schreiben und zu denken, wenn man seine „Briefe an mich selber“ aus dem Jahr 1940 liest. Es ist der versuch, mit sich selber zu kommunizieren, mit anderen Worten: wieder mit sich selbst in Kontakt zu treten und ins Gespräch zu kommen.
Es ist die kritische Selbstreflexion eines Menschen, der sich weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat: „Ich werde mich wieder mit mir selbst befreunden müssen“, sinniert Kästner nach Erhalt seines ersten Briefes bei Blick in den Spiegel. Der ihn da anschaut, ist ein Fremder geworden; man kennt sich noch, weiß aber eigentlich nicht mehr genau, wer man eigentlich ist und wo man steht in diesem verrückten Spiel, in dieser tosenden Welt, die aus den Angeln gesprungen ist.
Was bringt das Schreiben in solchen Zeiten? Ist Schreiben überhaupt eine sinnvolle Beschäftigung? Was haben Deine Bücher bewegt? Haben sie die Leser zu besseren Menschen gemacht, wie Du es Dir erhofft hattest? – Solche und ähnliche Fragen stellt sich Kästner in seinen „Briefen an mich selber“, und am Ende kommt er zu der Einsicht, dass er, anstatt weiter zu versuchen die Anderen zu besseren Menschen umzuerziehen, vielleicht lieber bei sich selbst anfangen und dem Leben noch eine neue Chance geben sollte: „Mehr wäre hierüber im Augenblick nicht zu schreiben. Der Rest verdient, gelebt zu werden.“
Das tat Kästner, und nach dem Krieg erschienen seine Tagebuchaufzeichnungen und viele weitere Texte, die uns Nachgeborenen gezeigt haben, wie es war, wenn man als Künstler und Freidenker im Dritten Reich leben und überleben wollte.
Autor: Erich Kästner
Titel: „Der Zauberlehrling“
Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
Verlag: Atrium Zürich
ISBN-10: 3855353999
ISBN-13: 978-3855353996